Dreifacher kleiner Exkurs in die Metallkunde:

Info an Achgold:
Guter Einwand. Ich will versuchen es in der „very light version“ also knapp und doch so verständlich wie möglich auszudrücken. Der Taenit (austenitisches Gamma-Eisen) eines Eisenmeteoriten mit z.B. 10% Ni-Gehalt durchläuft bei Abkühlung aus einer Temperatur von >900°C irgendwann vom Einphasengebiet die Feststoff-Phasengrenze in das Zweiphasengebiet Alpha + Gamma hinein und dabei wandelt sich immer mehr Taenit in Kamazit um. Aus Taenit wird also Kamazit und Taenit bleibt (verändert) vorhanden. Ni-armes Kamazit bildet sich direkt aus dem vergleichsweise Ni-reichen Taenit. Kamazit kann maximal 7.5% Ni-Gehalt aufnehmen (typisch 5.5 bis 7%), im Taenit kann der Ni-Gehalt bis auf 55% anwachsen, mehr hat man noch nie gemessen. Bei absinkender Temperatur – alles schön langsam in Millionen von Jahren – wachsen die Kamazit-Lamellen und weisen am Rand und der Mitte ziemlich gleichmässig +/- 6% Ni-Gehalt. Die ursprüngliche Menge Taenit wird durch das Breitenwachstum der Kamazit-Lamelle „aufgezehrt“, wird also anteilsmässig reduziert, sammelt aber den „überschüssigen“ Ni-Gehalt, der in den Kamazit-Balken nicht gelöst werden kann, an. Misst man ein Ni-Profil (Line Scan), so ist der Ni-Gehalt im Kamazit nahezu eine Gerade, im Taenit ein starker Anstieg am Rand und in der Mitte vom Taenit ein Abfall auf eine wieder etwas niedrigere Ni-Konzentration (Stichwort: „M“-Profil) zu messen. Die Abkühlungsgeschwindigkeit und der Ausgangsgehalt von Ni und Beimengungen anderer Elemente, insbesondere von Phosphor sorgen dann dafür, wie breit die Kamazit-Balken werden. Es gilt: Je schneller die Abkühlungsgeschwindigkeit, desto schmaler die Kamazit-Balken und es gilt auch: Je mehr Ni-Gehalt, desto schmaler die Kamazit-Balken. Unser Eisenmeteorit mit über die Fläche gemessenen ca. 10% Ni-Gehalt hat also, wenn man etwas genauer hinschaut +/- 6% Ni im Kamazit und irgendetwas zwischen 25 bis 55% Ni-Gehalt im restlichen Taenit, der meist nur noch hauchdünn die Kamazit-Lamellen oder –Balken umgibt/umhüllt. Taenit wird deshalb auch als „Hülleisen“ bezeichnet. Ein weiterer Gefügebestandteil, die Plessitfelder, sind Überbleibsel aus diesem langsamen Strukturbildungsprozess bei tieferen Temperaturen und wenn man eine Lupe zur Hilfe nimmt, dann sind die Plessitfelder meist (nicht immer!) feinstreifig aus Kamazit und Taenit aufgebaut. Ich hoffe, dass reicht Dir das als Erklärung?

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Info an Hungriger Wolf:
Ja, es gibt tatsächlich eine Art „Widmannstättensches Gefüge“ auch in technischen Eisenlegierungen mit meist geringen Kohlenstoffgehalten bis 0.4% (Stahlguss). Die Entstehung, die chemische Zusammensetzung und die mikroskopische Struktur hat aber ausser einer gewissen visuellen Ähnlichkeit eigentlich nichts mit dem Widmannstättenschen Gefüge der Eisenmeteoriten zu tun.
Hier noch ein Zitat aus „Das Zustandsschaubild Eisen-Kohlenstoff und Grundlagen der Wärmebehandlung der Eisen-Kohlenstoff-Legierungen“, Verlag Stahleisen M.B.H. (1961), dass dieses „Widmannstättensche Gefüge“ korrekt, aber recht schwerverständlich beschreibt. Zum Verstehen sind sicher Kenntnisse von metallkundlichen Begriffen von Vorteil:
„In untereutektoidischen Legierungen beginnt die Umwandlung mit einer voreutektoidischen Ferritausscheidung, in übereutektoidischen Legierungen mit einer voreutektoidischen Zementitausscheidung. Diese voreutektiodischen Ausscheidungen bilden sich im allgemeinen an den Korngrenzen der Austenitkristalle; bei grobem Austenitkorn und erhöhter Abkühlungsgeschwindigkeit können sie aber auch im Inneren der Austenitkristalle an kristallographisch bevorzugten Gitterebenen entstehen. Man bezeichnet dieses Gefüge als Widmannstättensches Gefüge.“
Bitte nicht verwechseln:
Widmannstättensches Gefüge im Stahlguss ist ein Überhitzungsgefüge mit nachteiliger Sprödigkeit, die die mechanische Festigkeit der technischen Stahllegierung absenkt. Bei schneller Abkühlung aus einem überhitzten, grobkörnig geglühten Austenit können vorausgeschiedene Ferritnadeln, oder auch bei übereutektoidischen Stählen vorausgeschiedene Ferrit-/Zementitnadeln entstehen. Die Festkörperumwandlung von Austenit (Gamma-Eisen) Richtung Ferrit (Alpha-Eisen) verläuft dabei anomal. Durch Glühbehandlung (Normalisieren) kann die Gefügestruktur positiv beeinflusst werden.
In Gegenzug dazu entsteht Widmannstättensches Gefüge in Eisenmeteoriten durch extrem langsame Abkühlung. Einzig die Benennung wurde für zwei sehr verschiedene Prozesse in früheren Zeiten namentlich gleichgesetzt. Das ist sicher nicht vorteilhaft, aber auch nicht sehr schlimm.

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Info an Paragraf:
Deine Aussage ist nicht ganz korrekt. Alois Beck von Widmannstätten hatte zwar etwa gegen 1808 die später nach ihm benannte Widmannstättensche Struktur durch chemische Ätzbehandlung einer Meteoreisenplatte gefunden und typographisch (Probe mit Druckerschwärze bestrichen und dann unmittelbar selbst als Druckstock verwendet, siehe in Schreibers, C.V.: Beiträge zur Geschichte und Kenntnis meteorischer Stein- und Metallmassen, 1820) benutzt, aber die Veröffentlichung der ersten mikroskopischen Gefügeaufnahmen an Metallschliffen wurde erst im Juni 1864 durch Henry Clifton Sorby (geb. 1826, gest. 1908) gemacht. Sorby hatte im Jahr 1863 erstmalig „Widmannstättensche Figuren“ an technischem Eisen (Stahlguss) gefunden. Die Arbeiten von Sorby fanden jedoch wenig Beachtung bis schliesslich Adolf Martens (geb. 1850, gest. 1914) im Jahre 1878 die Nutzbarmachung und Weiterentwicklung der Metallographie im Dienste der Werkstoffprüfung und -forschung durchsetzte. Der Name „Sorbit“ fand früher auch in der Metallkunde Gebrauch. „Sorbit“ und „Trostit“ waren alte, heute kaum mehr gebrauchte Begriffe für einen sehr feinlamellaren, bzw. einen groblamellaren Perlit (Gemisch aus Ferrit = alpha-Eisen und Zementit = Fe3C Eisenkarbid). Der Name Martens ist heute noch als Gefügebestandteil „Martensit“ (Härtungsgefüge) aus der Stahl- und Eisenhüttenkunde gut bekannt und dort nicht wegzudenken, in Eisenmeteoriten ist „Martensit“ auch bekannt. Bestes Beispiel: Tishomingo = Ni-reicher martensitischer Ataxit mit phantastischer Mikrostruktur!
Alles klar?!

Info: In Ensisheim habe ich einige kleine geätzte Teilstücke vom martensitischen Tishomingo-Eisen abzugeben…
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Achso: All das muss man nicht unbedingt wissen wenn man Eisenmeteoriten nur sammelt, aber es macht enorm viel Spass und wird immer interessanter, je tiefer man in die Materie und in die Literatur eindringt. Ich sitze schon wieder viel zu lange am PC und muss jetzt draussen im Garten erstmal ein Bier trinken … und tschüss.
Allende

PS: Wer Spass hat, sollte sich mal an folgendem Artikel versuchen: „Yang & Goldstein: The formation of Widmannstätten structure in meteorites“, MAPS 40, No. 2, pages 239-253 (2005). Da wir es dann richtig schwierig. Kann ich auf Wunsch als pdf-File durch die Leitung schieben.
